Ich will jetzt gar nicht behaupten, dass ich frei von sowas bin. Bestimmt könnt Ihr mir auch Widersprüchlichkeiten zwischen meinen Worten und Taten zeigen. (Etwa, dass ich Twitter nutze, um von dezentralen Mikroblogging-Diensten zu schwärmen.) Ich beobachte aber ein Ausmaß von Widersprüchlichkeiten zwischen Anspruch/inhaltlicher Auseinandersetzung und Praxis, das echt nicht in meinen Kopf hineinwill: Die Verlogenheit der Open-Alles-Bewegung. Ich beziehe mich mit den folgenden Beispielen tatsächlich nicht auf eine bestimmte Veranstaltung, sondern das zieht sich durch. Diskussionen, in denen gefühlt immer die gleichen Szenepromis über immer die gleichen Themen spechen: Freies Wissen, freie Lizenzen, freie Software, mitunter weitere angrenzende Themen. Hauptbotschaft: Wir sind die Guten, denn wir haben es verstanden!
Und dann diese Momente: Ich denke, wow, die*der hat ja zu einem interessanten Thema promoviert, gleich mal in bisschen in der Diss stöbern. Huch!? Geht ja gar nicht, die gibt’s nur für 40 € im Buchhandel. Der*die nächste zieht einen Mac aus der Tasche, um dem Publikum Folien darüber zu zeigen, wie wegweisend, bedarfsgerecht anpassbar, sozial und wirtschaftlich sinnvoll, ja, wie revolutionär freie Software ist. Aber selbst benutzen, das geht nicht, weil $BEGRUENDUNG. Einige der Argumente, die ich bisher am meisten gehört habe:
- „Ich finde auch, wir sollten freie Software nutzen, aber das würden die $MENSCHENGRUPPEN nicht mitmachen, denen können wir damit auf keinen Fall kommen.“
- „Freie Videoformate guckt doch eh niemand. Warum sollen wir die dann anbieten?“
- „Die schauen sich die Bewerbungen in MS Office an. Und wenn ich LibreOffice benutze, sieht meine Bewerbung darin doof aus.“
- „Wir kriegen die Lizenzen eh gespendet. Da können wir doch auch MS nutzen.“
- „Meine ganze Literaturverwaltung ist jetzt in $SOFTWARE, deshalb muss ich mit MS Office promovieren.“
- „Wir arbeiten viel mit Universitäten zusammen. Da kennen sie nur MS Office.“
- „Ich hatte vor 7 Jahren mal Ubuntu und da konnte ich nicht mal MS Office drauf installieren.“
- „Weil ich Excel brauche.“
- „Das ist mir zu hässlich. $APPLEPRODUKT sieht so gut aus.“
- „Weil ich Designer bin.“
- „Wenn freie Software unser Kernthema wäre, dann würden wir sie bestimmt auch benutzen. Ist sie aber nicht.“
- „Nee, ich will kein Linux!“ – „Aber was brauchst Du denn für deine Tätigkeit außer einem Browser?“ – „Da muss ich nachdenken.“
Ähnlich könnte ich jetzt eine Liste machen, zur Sammlung von Begründungen, warum Open Access voll toll ist, die eigene wissenschaftliche Arbeit aber eben doch für 40 € in den Buchhandlungen liegt. Sie fängt an mit
- „Es ist so toll, am Ende ein richtiges Buch in den Händen zu halten.“
Und sie endet irgendwo bei
- „Ich möchte schließlich in der Wissenschaft bleiben. Da muss ich schon bei einem angesehenen Verlag publizieren.“
Wieso bloß? Wieso wird jemand zum Szenepromi, weil er sich vornimmt, mal ein Jahr lang nur freie Software zu benutzen? Wieso tauchen ausgerechnet Universitäten dauernd in diesen Begründungen auf, quasi als Quellen der Verunmöglichung? Sie prägen die Regeln in entscheidendem Maße mit, die die Leute zur Anpassung bringen. Sie hinterlassen einerseits digitale Spuren in Form von Datensammlungen, die den Umstieg schwer machen. Andererseits psychologische Spuren: die Angst von dem Weg abzuweichen, den fast alle anderen auch gehen. Und schon wird eine andere Praxis schwierig.
Ich will jetzt nicht alle Schuld den Unis geben… Hey, Ihr Promis der „Open-Blabla“-Bewegung! Wollt Ihr nicht mal den Mut aufbringen, es tatsächlich anders zu machen. Viele von Euch sind ganz offensichtlich noch nicht mal beim „Freibier“ angekommen, Ihr werdet aber schon damit berühmt, über „Freiheit“ (as in Stallman) zu sprechen.
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